Die Weite war eine offene Muschel, die Sonne vom Himmel umschlungen. Das Licht drückte die Luftmassen in die Höhe und die Schatten der Wolken schmolzen mit dem Umriss der Erde zusammen. Über dem ruhigen Wasserspiegel lag schwer der Sonnenuntergang.
Am Rande der Stadt, mein Haus. Uhrzeigerstille. Das erste Leben und ein bisschen Blume. Die Hautlappen zum Trocknen auf den Zähnen gelegt. Wasseratmend streifte ich die Umgebung mit dem Blick. Um mich herum, dieses enge Zimmer. Die Tür war zu. Ich schaute aus dem Fenster. Die Straße schwieg. Gegenüber wohnten die Mertens. Sie waren Steine. Mit der Erde verbunden, gräulich. Sie lächelten Kuchen. Sie sangen nicht. Ich wollte nie Klobürsten sammeln, aber dieser Ekel vor dem Ausgeschiedenen zwang mich dazu. Ich verstand den Sinn des Verfahrens, bei dem man Dinge in sich hineinfrisst, nicht. Ich konnte die Aufnahme von Nahrung nicht ertragen.
Links von uns sind neulich Franz und George eingezogen. Schmetterlingsmenschen. Sie richten ihre Flügel nach dem Regenbogen aus. Sie tragen zarte Eheringe. Sie trinken nur. Nektar. Ich weiß nicht, was sie von mir halten. Ich würde gern Zeit mit ihnen verbringen. Ich darf mich nicht viel bewegen, um Energie zu sparen. Mein Körper hat das Gewicht eines mittelgroßen Hundes. Ich würde gern so schwer wie eine Mehlpackung werden. Es ist eine Sucht. Manchmal fühle ich mich als etwas ganz Besonderes, weil ich ohne Nahrung am Leben bleibe. Mein Körper muss mich ziemlich gern haben. Er führt den Kampf ums Überleben mehrmals am Tag. Was ich ihm zumute, ist kein Beweis von Gegenliebe. Er gibt mich trotzdem nicht auf. Jeder Tag durchläuft dieselben Phasen. Morgens, nach dem winzigen Cappuccino ... Der erste Absturz. Morgenübelkeit. Ich warte ab und lutsche Bonbons. Zucker ist mein Heilmittel. Ich ertrage keine Art von Süßigkeit außer Hartkaramell –purer Zucker. Es macht mich glücklich. Es macht mich müde. Der Zucker bläht meinen Bauch auf, die Schmerzen halten mich wach. Manchmal frage ich mich mit einer kindlichen Naivität, wieso ich ständige Bauchschmerzen habe. Die Antwort erscheint mir in den Augenblicken der Luzidität einfach. Was könnte am meisten unter meinem Essverhalten leiden, wenn nicht das Verdauungssystem? Nach ein paar Stunden, ohne Nahrung, fast ohne Wasser, verliere ich wieder die Kraft. Wieder mal habe ich das Gefühl, es nicht zu schaffen. Die Schwäche, der trübe Blick, der Blutdruck und der Blutzuckerspiegel sinken. Ich greife nach den Bonbons. Wenn ich die Krise überstanden habe und spüre, wie mein Zustand sich wieder stabilisiert, freue ich mich. Auch diese Freude ist eine Art Sucht. Ein Teufelskreis – ich fülle die Leere in meinem Leben mit dem wiederholten Sieg über den Tod. Über meine Schmerzen kann ich mit keinem reden. Sie würden sonst noch mehr Druck ausüben, um mich zum Essen zu bewegen. Ich sage ihnen, dass es mir blendend gehe und nicht verstehen könne, wieso sie mich nicht leben lassen, wie ich es für richtig halte.
Drei Mal am Tag bringen sie mir trotzdem das Gift. Essen. Die Panik lähmt mich. Ich ekele mich vor dem Anblick, dem Geruch, der Konsistenz der Nahrung. Ich würde alles geben, um es nicht essen zu müssen. Sie zwingen mich dazu. Ich führe fünf Mal den halbvollen Löffel zu Mund. Genug. Mama weint neben mir. Dann schließt sie die Tür hinter sich zu. Ich schaue aus dem Fenster. Frau Bolzen steigt in ihr Auto ein. Sie ist eine Glasflasche. Gerade. Dunkelgrün.
Nachts schlafe ich kaum. Das Liegen verursacht mir Schmerzen, so wache ich nach ungefähr einer Stunde auf, nicke nach einer Zeit wieder ein, wache aufgrund der Schmerzen erneut auf. Ich lutsche Bonbons. Dreißig. Ich zähle sie. Ich erlaube mir maximal dreißig Lutschbonbons pro Nacht. Ich höre Musik und häkele Kuscheltiere. Sie sind meine Kinder. Sie liegen um mich herum, überall im Zimmer verteilt. Die Tür ist immer zu.
Drei Mal die Woche wiegen sie mich. Wieso auch immer, wenn ich an Gewicht verloren habe, singt ein Spatz in meinem linken Ohr, ein Wichtel schaut aus meiner Hosentasche, mein Herz schlägt Purzelbäume und ich platze vor Stolz. Wieso auch immer, wenn ich an Gewicht gewonnen habe, nehme ich mir fest vor, mich umzubringen.